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Die Opferrolle - einige Gedanken

 

Heute Mittag durfte ich einen berührenden Podcast hören. „Echt magisch“ heisst der Podcast und wird moderiert von Miriam Zürcher. In dieser 23. Folge ist Miriam im Gespräch mit Maik Zosso und sie sprechen über Freiheit. Sie beleuchten verschiedenste Facetten zu diesem Thema. Unter anderem spricht Maik das Thema der Opferrolle an. Aufgrund einschneidender Ereignisse im Leben hängen wir, meist ganz unbewusst, darin fest, sind dadurch gefangen und fern von der Freiheit. Das Thema Opferrolle hat mich spontan angeregt, einen Blogartikel zu schreiben und mit euch einige Gedanken zu teilen. 

Es ist nicht ein einfaches Thema, denn man will sich selbst nicht gerne in einer Opferrolle sehen. Und wenn man sich die Opferrolle eingesteht, so ist es nicht immer nur einfach aus ihr auszusteigen. Denn der Ausstieg ist mit viel Schmerz verbunden. Meist noch mehr Schmerz, als man ertragen hat zum Zeitpunkt, wo man in die Opferrolle gerutscht ist. Die Opferrolle ist eine unbewusste Strategie, sich vor Misserfolgen und emotionalen Verletzungen zu schützen. Auch mir ist die Opferrolle nicht unbekannt aus meinem Leben.

Wir erleben alle schwierige, manchmal auch traumatisierende Ereignisse im Leben, die uns herausfordern, unser Leben verändern und uns auch viel Kraft kosten. Von einem Tag auf den anderen zeigt sich uns das Leben in einem anderen Kleid, hält uns einen anderen Spiegel hin, der uns Dinge zeigt, die wir bis anhin nicht für möglich gehalten hätten. Vielleicht sind wir von jemandem emotional tief verletzt worden, haben einen uns sehr nahen Menschen verloren,  hatten einen schweren Unfall, ein Burnout oder wir wurden als Kind missbraucht oder geschlagen, sind einem Mobbing zum Opfer gefallen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Erfahren wir einen Schicksalsschlag, werden wir vor die Aufgabe gestellt, neue Strategien zu entwickeln, die uns helfen, mit diesem Ereignis umzugehen. Z.B. vermeiden wir, gewisse Personen zu sehen oder brechen gar den Kontakt ab, wir gehen nicht mehr auf die Skipiste, fahren nicht mehr Motorrad, wollen keine feste Beziehung eingehen etc., in der Hoffnung, dass uns Ähnliches nicht mehr widerfährt. Aber das Erlebte geht meist noch tiefer und lässt Muster und Programme in uns entstehen, die über die sichtbaren Vermeidungsstrategien hinausgehen. Der Vorfall lässt in uns oft eine Vielzahl von unbewussten Ängsten und Blockaden entstehen, die uns daran hindern, unser Leben wieder in voller Eigenverantwortung in die Hände zu nehmen. Wir wollen uns schützen und gehen in eine unbewusste Opferrolle. D.h., wir suchen in dieser Phase in der Aussenwelt die Begründung für das, was wir in unserem Leben nicht umsetzen, aber eigentlich gerne tun würden. Z.B. verstecken wir uns hinter dem Vorwand, etwas nicht mehr tun zu können aufgrund unseres Unfalls, oder weil wir alleinerziehend sind, oder unser Partner/Partnerin gestorben ist, die Eltern zu streng waren, wir in der Schule ausgegrenzt wurden, etc. Aber im Endeffekt hindern wir uns selbst daran, das Leben zu leben!

Wie bereits erwähnt, kenne ich die Opferrolle aus meinem Leben auch. Und ich konnte sie lange nicht so recht verstehen, denn ich fragte mich oft, wie es sein kann, dass ich in einer Opferrolle bin, wenn ich selbst doch Schlimmes erlebt habe. Wo ist denn da der Platz für das Erlebte, wenn mir gesagt wird, dass ich in der Opferrolle sei? Folgendes habe ich dann aus meinen Erfahrungen im Umgang damit gelernt: Das, was wir erleben und erfahren im Leben, Schreckliches wie Schönes, haben wir erfahren und es bleibt ein Teil von uns. Nichts können wir rückgängig machen oder an der Vergangenheit verändern. Wir können nur lernen, damit umzugehen. Und genau da liegt der entscheidende Punkt. Was war, war, und jetzt ist ein neuer Augenblick im Leben. Und nur dieser zählt. Ab dem Jetzt, also in jedem Augenblick, liegt alles neu in deiner Hand. Du alleine hast die Wahl, was du daraus machen möchtest. Wenn du deine Träume, Wünsche und Vorstellungen nicht umzusetzen versuchst, so interessiert das niemanden. Die Welt ruft nicht nach dir. In dir aber entsteht eine Leere. Es ist möglich, dass du andere (körperliche – emotionale – finanzielle ) Voraussetzungen hast, als vor dem einschneidenden Ereignis in deinem Leben, aber du hast immer noch die Möglichkeit, oder vielleicht erst recht die Möglichkeit, oder DIE NEUE Möglichkeit. Auch wenn die Umstände schwierig sind und auf den ersten Blick aussichtslos wirken, entscheidend ist, dass du den Weg beginnst. Rufe du nach dir selbst! Niemand sonst wird es tun! Säe einen ersten kleinen Samen, dann pflege ihn und er wird wachsen. Alles weitere ergibt sich aus diesem einen ersten Akt.

Nach einem schweren, vielleicht traumatisierenden Erlebnis zeigen sich dir nahe Menschen oft mitfühlend, tröstend (sofern du dein Erlebtes geteilt hast). Aber dann, nach spätestens einigen Wochen, wenden sie sich von dir ab und du bist auf dich selbst gestellt. Und das ist auch gut so. Denn jede Person ist für sich selbst verantwortlich. Verantwortlich, in sich selbst die Kraft zu generieren, im Leben weiterzuschreiten und die Lebensfreude wiederzufinden. Je nach dem, was und wie man etwas erlebt hat, ist das nicht immer leicht und manchmal fällt man in ein ganz tiefes, dunkles Loch, aus dem man denkt, nicht mehr herauszukommen. Man verliert die Sicht auf das, was einem das Leben eigentlich alles schenkt. Man verliert die Dankbarkeit, das Mitgefühl für die Mitmenschen, man verliert die Demut. Man sieht nur noch das eigene Elend und kann sich gedanklich nicht von dem lösen, was einem widerfahren ist. Kein Ausweg ist sichtbar, vielleicht spielt man auch mit Todesgedanken. In diesem Augenblick sitzt man tief in der Opferrolle.

Nun heisst das aber nicht, dass man dem Erlebten nicht Rechnung tragen soll, es einfach unterdrücken und nicht verarbeiten soll. Ganz im Gegenteil. Es ist wichtig hinzuschauen, allen Gefühlen Raum zu geben, anzunehmen, dass sie da sind. Das ist ein Prozess, der vielleicht auch professionell begleitet werden muss. Aber irgendwann kommt der Tag, wo es ums Loslassen geht. Loslassen heisst, sich nicht vom schweren Erlebnis bestimmen zu lassen, sondern das Leben wieder eigenverantwortlich in die Hände zu nehmen. Nicht das Erlebnis bestimmt, wie mein Leben in Zukunft aussehen soll, sondern ich. Das Ereignis ist nicht weg, nein. Es ist und bleibt Teil meines Lebens. Es hat mich tief geprägt und geformt, hat mich vielleicht weiser gemacht und trägt nun dazu bei, dass ich mein Leben gestärkt gestalten kann.

Wenn dieser Tag kommt, an dem du spürst, dass du loslassen und den Blick wieder nach vorne richten kannst, wisse, dass du dich in diesem Augenblick selbst gerufen hast! Dann säe den ersten Samen und lasse ihn wachsen! 

 

 

 

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